Freitagspredigt von Imam Kadir Sanci – 02.06.2017


أَعُوذُ بِاللهِ مِنَ الشَّيْطَانِ الرَّجِيمِ. بِسْــمِ الله الرَّحْمنِ الرَّحِيم

يَا أَيُّهَا الَّذِينَ آمَنُواْ كُتِبَ عَلَيْكُمُ الصِّيَامُ كَمَا كُتِبَ عَلَى الَّذِينَ مِن قَبْلِكُمْ لَعَلَّكُمْ تَتَّقُونَ

 (el-Baqara 2:183)

قَالَ اللَّهُ : كُلُّ عَمَلِ ابْنِ آدَمَ لَهُ إِلا الصِّيَامَ فَإِنَّهُ لِي وَأَنَا أَجْزِي بِهِ

(el-Buhari und Muslim; überliefert von Ebu Hurayra)


Meine sehr verehrten Geschwister,

In dem von mir vorgetragenen koranischen Vers, el-Baqara 2:183, geht es um das Fasten:

“O ihr, die ihr glaubt! Das Fasten ist euch vorgeschrieben, so wie es denen vorgeschrieben war, die vor euch waren, damit ihr Gottes Schutz verdient und Gottesfürchtigkeit erlangt.”

Wer zu fasten hat, wann und wie gefastet wird, erfahren wir wiederum im Koran in darauffolgenden Versen.

Wir befinden uns im siebten Tag des Ramadan; eine Zeit besonderer Bedeutung; die Zeit, nach der wir uns ein ganzes Jahr lang ersehnt haben.

Es ist die Zeit der Selbstreflexion, der Versöhnung und der Solidarität.

Die Selbstreflexion ist eine geistige Buchhaltung, bei der wir unsere Beziehung zu Allah, unserem Schöpfer, hinterfragen. Wir wollen wissen, wo wir stehen und was alles wir in unserer Liebe, Dankbarkeit und Treue zu Allah vernachlässigt haben; wir fragen was wir besser machen können.

Die Versöhnung mit sich selbst und mit allem in seinem Umfeld erfordert die Klärung der Probleme, die einem zu Last werden. Dies erfordert eine besondere Kraft und viel Stärke. Die Versöhnung brauchen wir, um nach vorne schauen zu können; um alle Hindernisse aus dem Weg zu räumnen; um sich wieder auf das Wesentliche im Leben konzentrieren zu können – die Beziehung zu seinem sehr geliebten Schöpfer er-Rahman.

Wenn man lernt anderen zu verzeihen, wenn man sich an seine Pflichten als Familienmitglied, als Nachbar, als Freund, als ein Mitmensch erinnert, erst dann kann eine wahre Versöhnung stattfinden und für Solidarität, für ein Miteinander sorgen. Daher bitte ich euch an diesen Tagen nicht nur an Muslime, sondern auch an andere zu denken. Ladet sie zum Fastenbrechen zu euch nach Hause ein und stärkt das Miteinander.

Ramadan ist anstregend. Es ist aber eine süße, angenehme, ersehnte Anstrengung.  Wir verbringen in dieser Zeit die Tage in Enthaltsamkeit, die Abende in familiärer und freundschaftlicher Gemeinschaft und die Nächte in Zurückgezogenheit mit Allah.

Das Fasten ist nach kitab, sunna und idschma’ – d.h. nach dem Koran, der vorbildhaften Vorgehensweise unseres Propheten und nach der übereinstimmenden Meinung der Gelehrtenschaft – eine Pflicht für alle körperlich und geistig gesunden Menschen. Im 15. Jahr des Islams, im 2. Jahr n.H. verordnete der Gesandte Gottes zum ersten Mal ein gemeinsames Fasten am 10. Muharrem. Im gleichen Jahr wurde das Fasten im Ramadan als eine Pflicht offenbart.

Aber sollte es nur als eine Pflicht verstanden werden? Nein, wir sollten das Fasten und den Monat Ramadan als rahme, als Segen, als Barmherzigkeit Allahs verstehen; wir sollten sie als ein besonderes Geschenk Allahs mit Freude annehmen.

Im Ramadan wird der Tag vom Fasten begleitet. Die Nächte werden mit Bittgebeten, rituellen Gebeten (namaz) und Koranlesungen geschmückt. Tagsüber spürt man durch den Hunger die Einsamkeit und Hilflosigkeit. Man ist zwar unter Menschen, aber tief im Inneren fühlt man sich von Zeit zu Zeit alleine. Man spürt, wie sehr das eigene Leben von einem ständigen Essen und Trinken begleitet wird. Die Bedürfnisse sind langsam zu Abhängigkeiten geworden. Es wird in den ersten Tagen nicht leicht; man ist zwar nicht hungrig, möchte aber trotzdem etwas essen. Man stellt sich die Frage: Esse ich um zu überleben oder lebe ich zum Essen? Langsam wird man auf die verschwenderische Haltung im Leben aufmerksam.

Erst gegen Abend bekommt man richtig Hunger. So kann man den Iftar, das Festessen mehr als sonst genießen und für die Gaben Allahs dankbar sein. Wenn man sich dann an unseren Propheten erinnert, der mit seiner Ashab (Prophetengefährten) für das Fastenbrechen meistens nur ein-zwei Datteln und manchmal nicht mehr als ein wenig Wasser hatte, ist man getrübt. So möchte man eigentlich auch am Abend auf das Essen verzichten, aber dies wiederum braucht eine sehr große Überwindung und Disziplin.

Die Einsamkeit in der Seele fördert das Nachdenken. Man macht sich Gedanken über die leichtsinnigen Taten, die vernachlässigten Pflichten, die nicht nachgegangenen Verantwortungen und die vergessenen Versprechen. Schließlich möchte man das alles ändern; man sollte es versuchen, man sollte es anstreben.

Verehrte Muslime,

Ramadan ist die Gelegenheit für ein Neuanfang. Eine Gelegenheit, den uns Allah jedes Jahr wieder und wieder schenkt. Vielleicht ist dieser Ramadan die letzte Gelegenheit; bitte lasst nicht zu, dass wir diese Chance verpassen. Nutzten wir dieses Geschenk, um für Freunde und Familie und gegenüber deren Bedürfnisse feinfühliger zu werden. Erinnern wir uns an ältere Verwandte und Freunde und auch an kranke Menschen – Menschen die uns brauchen. Besucht und beschenkt sie! Nutzt jede Gelegenheit zur Versöhnung mit alten Freunden!

Nutzt die Abende, um unserer sozialen Verantwortung in der Gesellschaft nachgehen zu können. Lässt den Ramadan mit Lebhaftigkeit und buntes Beisammensein ein weiteres Mal blühen.

Dem Hungern, Gottesgedenken und guten Taten am Tag soll ein festliches, versöhnendes, ein zusammenschweißendes Miteinander am Abend folgen. Und krönt dieses feierliche Fastengebet mit der Einsamkeit in der so stillen Nacht. Nein, eigentlich ist das keine Einsamkeit; es ist ein Rückzug zu Allah, ein Alleinsein mit dem barmherzigen Schöpfer. Klopft in diesen Nächten an der Tür zur metaphysischen Welt! Werdet sensibler, frommer und tiefgründiger und kommt eurem Schöpfer einen Schritt näher.

In einem Hadith qudsi heißt es:

“Allah sagte: ‚Alle Taten der Kinder Adams gehören ihnen, außer dem Fasten. Wahrlich dies ist für mich. Und nur Ich werde es belohnen.’”

Im Islam spielen die Engel bei der Belohnung von guten Taten eine vermittelnde Rolle. Fasten ist jedoch ein dermaßen aufrichtiges Gebet – ein Gebet erfüllt mit ihlas –, welches von Allah selbst, ohne Vermittler, belohnt und gewürdigt wird.

Der ehrenwerte Imam el-Ghazali (1055-1111) unterscheidet zwischen dem Fasten der Laien (awam), der Gebildeten (hawas) und den Besonderen unter den Gebildeten (ahassu’l-hawas).

Die Laien verstehen Folgendes unter Fasten: Nichts essen, nichts trinken und in der Beziehung zu seiner Partnerin enthaltsam sein.

Das Fasten der Gebildeten ist ein Fasten auch mit weiteren Organen. Der Rahmen der Enthaltsamkeit wird erweitert. Die Ohren verschließen sich gegenüber Lügen, die Augen suchen nur nach dem Schönen, die Zunge lehnt das Gerede, das Lügen, die üble Nachrede, die Verleumdung, das Schimpfen, den Streit und sogar das Einschmeicheln ab. Die Hände und die Füße helfen dem ich vor der Sünde zu entfliehen.

Das Verständnis der Besonderen unter den Gebildeten ist das für jedermann erreichbare Ziel im Islam: Imam el-Ghazali nennt das das Fasten des Herzens. Dies geschieht, wenn das Herz von der Liebe an Allah ergriffen ist und sich von schädlichen Eigenschaften wie Hass, Neid, Gier und Hochmut befreit. Die Distanz zu seinen körperlichen Bedürfnissen ist nur ein Weg für die Erfüllung eines Gebotes und kein Selbstzweck mehr; sie dienen dazu, den Menschen zu läutern. Sie erkennen, dass jedes Herz der Läuterung durch Selbstkritik und Selbstreflexion bedarf und streben es an.

O Allah, der Barmherzige, der Allmächtige! Helfe uns den Weg der ehassu’l-hawas zu gehen und nehme uns in deren Kreis auf!

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